"Baby Revolution": Es ist was los in Bosnia*
(coś dla naszych niemieckojęzycznych druhów)
Anfang Juni begannen die Demonstrationen vor dem Parlament von Bosnien-Herzegowina (BiH). Der Grund war nicht die hohe Arbeitslosigkeit, Steuererhöhungen, die Schließung von Fabriken oder die Gleichberechtigung von Partnerschaften. Nein, der Auslöser ist ein anderer. Es geht um die Personennummer, die jede Person von Geburt an bekommen sollte (ähnlich der Sozialversicherungsnummer in Deutschland). Sollte. Denn das passiert seit einem halben Jahr nicht mehr in BiH. Christoph Schneider, SHL-Freiwilliger in Sarajevo, berichtet von den Protesten.
(coś dla naszych niemieckojęzycznych druhów)
Anfang Juni begannen die Demonstrationen vor dem Parlament von Bosnien-Herzegowina (BiH). Der Grund war nicht die hohe Arbeitslosigkeit, Steuererhöhungen, die Schließung von Fabriken oder die Gleichberechtigung von Partnerschaften. Nein, der Auslöser ist ein anderer. Es geht um die Personennummer, die jede Person von Geburt an bekommen sollte (ähnlich der Sozialversicherungsnummer in Deutschland). Sollte. Denn das passiert seit einem halben Jahr nicht mehr in BiH. Christoph Schneider, SHL-Freiwilliger in Sarajevo, berichtet von den Protesten.
Im Februar wurde das Gesetz zur
Vergabe einheitlicher Personennummern in ganz BiH ungültig, nachdem das
Verfassungsgericht Unstimmigkeiten mit der Verfassung festgestellt
hatte. Der Ministerrat von BiH, bestehend aus den Vertretern der zwei
Landesteile (Föderation und Republika Srpska), haben sich bis dato noch
nicht auf ein neues Gesetz einigen können. Der Vorschlag der Republika
Srpska (RS) sah vor, dass in der Personennummer eine unterschiedliche
Zahl in der RS, der Förderation und eine im Brčko-Distrikt verwendet
wird, um somit die Unterteilung in Entitäten sichtbar zu machen. Die
Politiker der Parteien aus der Föderation waren damit nicht
einverstanden. Sie wollten eine einheitliche Ziffer für ganz BiH und
unterschiedliche Ziffern für Regionen, aber nicht getrennt nach
Entitäten. Als Reaktion hat die RS ihre eigenen Personennummern bereits
eingeführt, aber Neugeborene in der Föderation existieren weiterhin
nicht auf dem Papier. Damit wurde eine gesamtstaatliche Aufgabe auf die
Ebene der Entitäten zwangsweise abgegeben.
Geht
es nur um eine Nummer? Nein. Das Problem ist ernst, denn für Kinder, die
seit Februar geboren wurden, kann ohne Personennummer kein Reisepass
beantragt werden. Damit ist eine Reise ins Ausland nicht möglich, und
vor allem können die Kinder nicht über das staatliche Gesundheitssystem
behandelt werden.
Die Situation würde
wahrscheinlich einfach so weitergehen, der Ministerrat würde sich ab und
zu treffen und weiterhin nichts entscheiden, wäre nicht Belmina
Ibrišević. Belmina ist drei Monate alt, hat Leukämie und benötigt eine
Knochenmarktransplantation. Die kann sie in BiH leider nicht bekommen.
Ein Termin in Deutschland ist bereits gemacht, ein Spender gefunden,
aber Belmina kann ohne Reisepass nicht ausreisen und diesen bekommt sie
nicht ohne Personennummer. Die Eltern von Belmina haben in ihrer
Hilflosigkeit entschlossen, Unterstützung in der Öffentlichkeit zu
suchen.
Bereits am Tag (5. Juni), als die Infos
in den Medien erschienen sind, hat eine Gruppe junger Menschen aus
Sarajevo als Protest die Ausfahrt aus der Tiefgarage unter dem Parlament
blockiert. Am selben Abend kam eine Pressesprecherin und verkündete,
dass eine Lösung gefunden wurde und ab morgen Kinder ihre
Personennummern bekommen können – allerdings nur als zwischenzeitliche
Lösung für die nächsten sechs Monate. Die Demonstranten gaben sich damit
aber nicht zufrieden und haben die gesamte Nacht über die Garage mit
ihren Autos blockiert. Am Morgen gingen die Eltern von Belmina zur
Gemeinde, um endlich die Personennummer zu bekommen. Von der
zwischenzeitlichen Regelung wusste dort niemand und die Nummer konnte
weiterhin nicht ausgegeben werden.
Am Donnerstag
(6. Juni) haben sich seit dem Morgen immer mehr Personen vor dem
Parlament versammelt, größtenteils junge Menschen, viele davon mit ihren
Kindern, die teilweise selbst betroffen sind. Gegen 14:00 waren es
bereits so viele Demonstranten, dass alle Eingänge blockiert werden
konnten, indem eine Menschenkette um das Gebäude gebildet wurde. Die
Personen, die aus dem Gebäude hinaus wollten, wurden mit lauten Rufen
zurückgewiesen: „Zurück an die Arbeit“. Die Aussage war eindeutig. Macht
eure Arbeit und ihr könnt nach Hause. Viele der Krawattenträger gingen
selbstbewusst in Richtung der Demonstranten, um kurze Zeit später mit
hängenden Köpfen zurück zu kehren. Einige Politiker versuchten durch
Fenster zu flüchten, obwohl ihnen nichts gedroht hat, außer ihrer
normalen Arbeit. Nachmittags haben sich bereits ca. 3000 Demonstranten
versammelt, vollkommen friedlich, aber konsequent: Keiner kommt aus dem
Parlament, solange die Angelegenheit nicht gelöst ist.
Die
Regierung hat alle möglichen Polizeieinheiten zu Hilfe geholt. Nur
haben sie nichts gemacht und damit die Demonstranten unterstützt, aber
nicht die Regierung beim Verlassen des Gebäudes. Vor Ort waren alle
großen Medien des Landes vertreten und haben aktuelle Informationen
direkt übertragen. Ein Journalist interviewte eine Frau mit einem
Kleinkind im Arm. Das sei ihre Enkeltochter, die Eltern arbeiteten im
Ausland und seien zur Geburt nach BiH gekommen. Nur ausreisen konnten
sie nicht mit ihrem Kind, da es keinen Ausweis bekommen konnte. So
kümmert sich jetzt die Großmutter in Abwesenheit der Eltern um den
Zögling.
Gegen 18:30 wurden Vertreter der
Demonstranten zum Gespräch gebeten. Sie haben in Erfahrungen gebracht,
dass es erstens heute keine Entscheidung geben wird, da im Parlament
keine Beschlussfähigkeit hergestellt werden kann (die Forderungen der
Demonstranten wurden bereits am Vormittag schriftlich zugestellt) und
die Demonstration sich sofort auflösen soll, da ansonsten die Personen
über Kameras identifiziert und verurteilt werden. Die Demonstranten
wurden über die Gespräche informiert und waren damit nicht einverstanden
und somit wurden weiterhin die Eingänge blockiert.
Gegen
4:00 Uhr morgens als nur noch wenige Demonstranten vor Ort waren,
verließen alle Personen das Parlament durch einen Polizeikorridor. Es
waren insgesamt ca. 800 Personen im Haus, darunter 250 Ausländer, die zu
einer Konferenz des Europäischen Fonds für Südosteuropa angereist
waren. Auch wenn die Vertreter der europäischen Institutionen wenig an
der Verantwortlichkeit der lokalen Politiker ändern können, haben sie
direkt die Probleme der Einwohner zu spüren bekommen und die Unfähigkeit
der Regierung gesehen. Ihr Verständnis war größtenteils auf Seiten der
Bürger.
Am nächsten Tag wurden Personen befragt,
die im Parlament gewesen sind. Da war von „Geiselnahme“ und
„Freiheitsentzug“ die Rede, Gefängnisstrafe von 3-5 Jahren wurde
gefordert. Die Demonstranten haben die Freiheitsrechte verletzt, sie
waren an ihrer freien Bewegung gehindert, hungrig und durstig
(Polizisten haben mehrmals Essen ins Gebäude gebracht und das
Leitungswasser in Sarajevo ist trinkbar). Glücklicherweise hat ein
Großteil der Gäste den angestauten Frust der Bürger/innen verstanden,
dass so eine einfache Sache politisiert werden muss. Gemmy Ferst, die im
Gebäude gewesen ist, hat über Twitter veröffentlicht, dass sie zu
Sitzungen in instabilen Ländern nicht ohne vorbereitete geschmierte
Brote kommt.
Im Fernsehen der RS (RTRS) waren
andere Töne zu hören. Die Parlamentarier der RS seien bewusst nicht
hinausgelassen worden, während Politiker aus der Föderation problemlos
das Gebäude hätten verlassen können, da die „Aktion“ politisch motiviert
sei. Es war von einer Krise und Angriff auf die Politiker der RS die
Rede, von gefährlichen und aggressiven Demonstranten, initiiert und
manipuliert durch nationalistische „bosnjakische“ Kräfte und die
Nichtregierungsorganisationen. Die Sicherheit der Vertreter der RS in
der gemeinsamen Institution BiH sei gefährdet, eine weitere Teilnahme
werde in Frage gestellt. Keine Info über junge Mütter mit ihren Kindern
und die politische Unfähigkeit. Diese Info ging an die Zuschauer von
RTRS am nächsten Tag. Kein Wunder, dass die Bürger von BiH in mindestens
zwei Welten leben. Die Medien aus Sarajevo haben sofort darauf reagiert
und von großen Protesten in Banja Luka gesprochen, ohne eine Zahl der
Demonstranten und Bilder dazu zu liefern. Der politische Krieg ging in
den Medien weiter. Besser war bedient, wer AlJazeeraBalkans bemüht hat.
Dort gab es fundiert und informativ eine Zusammenfassung mit
Hintergründen und Reaktionen.
In der vergangenen
Woche fanden am Dienstag wieder groß angekündigte Demonstrationen
statt, denen auch Rentner, Arbeitslose und Studenten beiwohnten, um
ihren Unmut Luft zu machen, insgesamt zwischen 7000 und 10000 Personen.
Die Demonstrationen werden ein Sprachrohr für die allgemeine
Unzufriedenheit und schwappen ebenso in andere größere Städte von BiH
über. Seit dem 5.6.2013 ist der Platz vor dem Parlament täglich von
Bürgern besetzt, ein gesellschaftskritischer Treffpunkt geworden.
Christoph Schneider
Christoph Schneider
*źródło: http://www.schueler-helfen-leben.de/de/home/stiftung/aktuell/archiv/2013/baby_revolution_es_ist_was_los_in_bosnien_und_herzegowina.html
na podstawie postów Się dzieje, czyli demonstracje i blokada parlamentu w Sarajevie i Bebo-rewo-lucja
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